Underdog der digitalen Transformation:
Was Otto mit Agilität am Hut hat 

von Marthy Tom Matten, Marie Daut 

Was hat der Versandhandel mit Agilität gemeinsam? Vor etwa 70 Jahren wurde der Begriff “Agilität” geboren – damals noch im Zusammenhang mit der Manövrierfähigkeit von Flugzeugen. Im gleichen Jahrzehnt begann auch die große Ära deutscher Versandgeschäfte. Unternehmen wie Neckermann, Quelle und Otto stiegen zu bedeutenden Unternehmen auf. Doch mit dem Begriff „Agilität“ werden sie nicht in Verbindung gebracht. Oder? Doch!

Wie viele von uns erinnern sich noch an den dicken Quelle-Katalog, der uns ins Haus geliefert wurde? Wir durchblätterten ihn und markierten die gewünschte Kleidung oder Haushaltsgegenstände. Anschließend gaben wir unsere Bestellung über Post, Fax oder Telefon auf.

Neckermann und Quelle gibt es nicht mehr. Und der Katalog vom Handelsriesen Otto kommt auch nicht mehr in unsere Briefkästen. Stattdessen schreien wir, wenn der Postbote mit unserem Zalando Paket vor der Tür steht.

Quelles Niedergang

Wer hätte das gedacht? Denn Quelles Versand- und Bestellwesen war durchaus innovativ. Durch den Bau einer leistungsfähigeren Versandanlage besaß das Versandhaus eine der modernsten Paketfabriken der Welt und verarbeitete seine Versanddaten elektronisch.

An welcher Stelle hat Quelle den Anschluss verpasst? Das Fürther Warenhaus versteifte sich zu sehr aufs Kerngeschäft und war zu lange unbesorgt - auch dann noch, als neue Konkurrenten wie Amazon mit deutlich niedrigeren Preisen dieselben Nutzerversprechen erfüllten. Als Quelle aufwachte und den Online-Einstieg endlich probierte, war’s längst zu spät.

Unternehmen müssen sich selbst immer wieder neu erfinden und dabei sogar oft das eigene Kerngeschäft durch eine agile Arbeitsweise kannibalisieren, wie uns das Beispiel [Netflix] zeigt.

Underdog Otto?

Doch nicht alle deutschen Versandgeschäfte sind mit dem Wandel gescheitert. Mut zum Wandel zeigt der Hamburger Familienkonzern Otto. Durch Umstrukturierungen und Zukäufe hat sich der Riese ständig weiterentwickelt.

Ende 2018 hat Otto den Katalog abgeschafft und alles dran gesetzt, ein vollständig digitalisiertes Unternehmen zu werden. Das hat Otto Blut und Schweiß gekostet, denn anpassungsfähig und flexibel wird ein Konzernriese nicht beim Spazierengehen.

Alles neu

Für ein traditionsreiches Unternehmen wie die Otto Group bedeutet eine digitale Transformation radikalen Wandel.

Denn ein dynamisches Unternehmen verträgt sich nur bedingt mit starren Hierarchien, ausgeprägtem Silodenken und langen Entscheidungswegen. Statt Command-and-Control heißt es totale Offenheit für Neues bei Führungskräften und Teams.

Die besten Strategien und Konzepte nützen nichts, wenn die Kultur eines Unternehmens sich nicht entsprechend verändert. 2016 rief das Unternehmen deshalb einen “Kulturwandel 4.0” aus.

Kulturwandel 4.0 bei Otto

Der „Kulturwandel 4.0“ sollte gewohnte Verhaltensmuster durchbrechen und zum positiven verändern. Als Erfolgskriterien legte Otto folgende Dimensionen fest:

  • Kundenperspektive
  • Eigeninitiative und Agilität
  • Vernetzung und Wir-Gefühl
  • Geschwindigkeit und Flexibilität
  • Data Driven
  • Schlagkraft der Gruppe

Aber Kultur wird nicht verordnet, sondern gelebt. Daher verzichteten die Hamburger auf ein bloßes “Aufdrücken” neuer Werte und Prinzipien.

Von Beginn an sprachen die Vorstände sehr offen und öffentlich von der Notwendigkeit, die Zusammenarbeit untereinander zu verbessern und etwaiges Bereichs- oder Silodenken aufzubrechen.

Aber Otto diskutierte offen. Die Kulturvielfalt innerhalb des Familienkonzerns wurde zum Thema gemacht und wertgeschätzt. Otto suchte nach Gemeinsamkeiten, verbindenden Elementen, statt nach Unterschieden.

Ein Kulturwandel-Team unterstützt die Transformation

Sich aktiv in den Transformationsprozess einbringen – das forderte Otto von Beginn an von Kolleginnen und Kollegen. Ein eigenes Kulturwandel-Team hielt den Prozess des Wandels in Gange und entwickelte in dessen Zuge folgende Maßnahmen:

  • Akteure in strategische Entscheidungen einbeziehen
  • Cross-funktionale Teams
  • Entscheidungen auf Echtzeit-Datenbasis
  • Agile Arbeitsmethoden, wie Scrum und Kanban
  • Pair Programming
  • Neues Leitbild für Führungskräfte
  • Scheitern ist erlaubt

Mit anfangs nur fünf cross-funktionalen Teams stampfte Otto einen state-of-the-art Online-Shop aus dem Boden. Dabei agierten die Teams in einem geschlossenen System mit wenigen Schnittstellen in andere Bereiche und reinem Fokus auf den E-Commerce. Agile Arbeitsmethoden und das Motto “fail fast, learn fast” halfen Otto den Shop bereits drei Monate vor dem geplanten Termin live zu stellen.

Interne Kommunikation muss vor allem persönlich und relevant sein

Was Otto außerdem erkannte: Kultur definiert sich über die Qualität von Beziehungen. Und Beziehungen definieren sich über Kommunikation.

Doch die Informations- und Kommunikationsgewohnheiten haben sich durch den Einfluss von Social Media geändert. Dialog, Partizipation und das Teilen von Inhalten stehen im Vordergrund.

Deshalb sorgt Otto dafür, dass sich Mitarbeitende intern einbringen und Dialoge mitgestalten dürfen und sollen.

Außerdem wird persönliche Kommunikation der Führungskräfte großgeschrieben. Vor allem in Zeiten des Wandels. Das schafft Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Nähe. Deshalb kommt Veranstaltungen in kleineren Runden bis hin zu Town Halls steigende Bedeutung zu.

 

Was sagt denn zum Beispiel der Vorstandsvorsitzende Alexander Birken? Er bestärkt seine Kolleginnen und Kollegen darin, Veränderungen selbst zu initiieren und umzusetzen. Denn die Mitarbeitenden sind die Veränderung.

Er ermutigt, den „Raum für temporäre Orientierungslosigkeit“ zu überwinden und die Unsicherheit auszuhalten. Das brauche zwar Kraft, sei aber eine gute Übung für das, was Otto bevorstehe: „Das Managen von Unsicherheit ohne Scheinsicherheiten und mit offenem Ausgang.“

Informationsaustausch und Netzwerkdenken

Otto weiß, dass der #Kulturwandel 4.0 nur gelingen kann, wenn möglichst viele KollegInnen ihr Wissen und ihre Erfahrung in den Transformationsprozess einbringen – und weit darüber hinaus in alle für sie relevanten Prozesse der Unternehmensgruppe.

Deshalb gibt es eine zentrale Informations- und Vernetzungsplattform. Sie bringt Mitarbeitende aller Hierarchieebenen zusammen, um sich zu einzelnen Projekten, Workstreams oder zum Leitbild auszutauschen. Die Plattform befeuert den Dialog und Diskurs auf Augenhöhe. Sie belebt Inhalte des Kulturwandels 4.0, unabhängig von Status.

Ein weiteres Highlight bei Otto: Persönliche Austauschformate. Von klassischen Workshops bis hin zu „FuckUp Nights“, bei denen Führungskräfte von ihren größten Fehlleistungen berichten. Das schafft Zugehörigkeit, Vertrauen und Menschlichkeit. Besonders beliebt sind auch “Marktplätze”, bei denen kleine Gruppen in 10-Minuten-Sessions eine Diskussion zu bestimmten Themen diskutieren.

Was können wir von Otto lernen?

Otto zeigt uns eindrucksvoll, dass eine digitale Transformation von innen heraus passieren muss. Durch eine lernende und gelebte Kultur, die ihr eigenes „wie wir Arbeit verrichten“ ständig anpasst. In der Menschen dazu ermächtigt und ermutigt werden, kreativ zu sein und eigene Wege zu finden, um das "warum” ihres Unternehmens selbst auszufüllen.

Ottos Erfolg gibt dieser Strategie Recht. Durch ihre über hundert Verkaufsseiten und rund sieben Milliarden Euro reinem Online-Umsatz gehört die Otto Group weltweit zu den Top 5 des E-Commerce und ist in Deutschland die Nummer zwei hinter Amazon (Stand 2015).

Was haben Agilität und der Versandhandel also gemeinsam? Otto, ist doch klar.

Quellen:

Afting, Christina et al. (): Transformation der Unternehmens- und Prozesskultur. In: Deekeling, Egbert; Barghop, Dirk (Hg.): Kommunikation in der digitalen Transformation. Wiesbaden, 2017.

Häusling, Andre (Hg.): Agile Organisationen. Freiburg, 2018.

Kraus, Stephan; Wolter, Peter: Scaling Agile @ OTTO – Learning at Scale: Agilität als umfassende organisatorische Herausforderung. Zuletzt abgerufen am 11.5.2020.

New Management: Organisationsrebellen #6: Kulturwandel 4.0 bei OTTO. Zuletzt abgerufen am 11.5.2020.

Business User: Digitalisierung bei Otto – ein Kulturwandel. Zuletzt abgerufen am 11.5.2020.