Nonplusultra oder Albtraum? Agile Kultur am Beispiel von Netflix 

von Sebastian Niehoff, Marie Daut 

Agil werden will jeder. Doch wie weit ist Wille von Realität entfernt? In unserer Beratungstätigkeit stoßen wir häufig auf Missverständnisse bezüglich der Voraussetzungen an agile Arbeitsweisen und den erhofften Output. Viele betrachten bei der Einführung von agilen Arbeitsmethoden überwiegend Schnittstellen zu anderen Abteilungen und Fachbereichen. Vernachlässigt werden dabei oft die Stolpersteine vor der eigenen Nase: die eigenen Mitarbeiter und die eigene agile Kultur. Weil Netflix als Best Practice für Agilität gilt, werfen wir heute einen Blick auf deren Organisationskultur und fragen uns: Was können wir vom Tech Giganten lernen?

 

Um wahrhaft agile Kultur zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Leitlinien von Netflix. Der Streaming-Anbieter veröffentlichte einst eine Power Point-Präsentation mit dem Titel „Netflix Culture: Freedom & Responsibility“. Das Paper wurde millionenfach heruntergeladen. Facebooks COO Sheryl Sandberg bezeichnete es als das wohl wichtigste Dokument, das jemals im Silicon Valley hervorgebracht wurde.

Netflix Leitlinien zur Organisationskultur gehen viral 

Eine Diskussion entbrannte: Die einen diagnostizierten Netflix eine agile Kultur von ultimativer Performance, die anderen bewerten die Arbeitsbedingungen als reinen Albtraum. Widerspricht diese Feststellung nicht der allgemeinen Annahme, dass agiles Arbeiten das Arbeitsklima und die Mitarbeiterzufriedenheit verbessere? Wir werfen einen Blick hinter das scheinbare Paradox.

Performance durch Freiheit

In klassischen Unternehmenskontexten nimmt die Anzahl an Prozessen und Schnittstellen bei wachsender Unternehmensgröße zu. Damit verringern sich die Freiheitsgrade einzelner Mitarbeiter – mit unmittelbarem und verheerendem Einfluss auf die Performance, denn diese nimmt überproportional ab.

Agiles Arbeiten im Allgemeinen und bei Netflix im Besonderen setzt genau hier an: Die Performance der Mitarbeiter soll kontinuierlich gesteigert werden.

Deswegen gilt bei Netflix der folgende Grundsatz: Je größer das Unternehmen wird, desto mehr Freiheitsgrade muss es für Mitarbeiter geben. Das soll einen klaren Fokus aufs Produkt ermöglichen, Ablenkung verhindern und zu schnellen Arbeitsergebnissen führen.

Diese Art von Arbeiten motiviert Mitarbeiter – und jene Talente, die man gewinnen will, fordern es sogar ein.

Agile Kultur lockt Talente

Das macht den Ansatz zu Ziel und Voraussetzung. Denn Output-orientiertes Arbeiten braucht Top-Talente, die mit Entscheidungsfreiheit umzugehen wissen. Und was lockt jene Top-Talente?

Zumindest die, die einmal in einer agilen Umgebung tätig waren, können sich danach schwer vorstellen, jemals wieder anders zu arbeiten: Schnelle, sichtbare Ergebnisse mit Impact, komplette Innovations- und Produktfokussierung und nebenbei von Top-Kollegen lernen… Wer möchte da noch die Silos, Prozesse und langen Entscheidungswege eines Konzerns bedienen?

Blick in die Leitlinien von Netflix agiler Kultur

Aber was tun letztere, die gar nicht anders können, z.B. die Industrieabteilungsleiter im Konzern? Um diese soll es auf der zweiten Seite der Medaille gehen. Lassen wir zur Beantwortung der Frage einige Grundsätze des Netflix-Kodex wirken:

  • Unsere Mitarbeiter wachsen an Herausforderungen. 
  • Jedes Team hat eigene Ziele, aber innerhalb eines Teams trägt jeder eine Verantwortung, die er alleine bewältigt.
  • Wir rekrutieren nur Stars und Experten für jede Position. Entsprechend kannst du von jedem Kollegen lernen und Mitarbeiter entwickeln sich gegenseitig weiter.
  • „The Keeper Test“ (So testen Manager, wen sie entlassen oder behalten sollten):
    „Für welchen meiner Mitarbeiter würde ich hart kämpfen, um ihn zu halten, wenn er die Firma verlassen wollte?“ Alle anderen sollten ihren Platz räumen.

Wie Performance und Druck zusammenhängen

Eine weitere Hintergrundinformation: Lediglich drei Prozent aller Mitarbeiterabgänge erfolgen bei Netflix freiwillig.  In diesem Kontext lässt sich der Netflix-Leitfaden auch anders lesen: Wir können erahnen, welcher Druck in einem solchen Performance-orientieren Unternehmen herrschen muss. Es drängt sich die Vermutung auf, dass Performance, Innovationsdruck und Druck auf Mitarbeitern zusammengehören. 

Agile Kultur auch für Konzerne?

Was bedeutet das für Konzerne? Stellen wir uns folgende Frage: Möchten Arbeitnehmer, die Jahre oder Dekaden in einem weniger Performance-optimierten Unternehmen gearbeitet haben, in einem Druckkessel wie bei Netflix tätig werden?

Wohl kaum.

Insbesondere das Transparentmachen der eigenen, täglich produzierten Leistung vor Vorgesetzen und Kollegen bringt viele Mitarbeiter an ihre Grenzen.

Radikale Agilität scheint entsprechend nicht jedem zu schmecken. Und agiles Arbeiten ist sehr viel mehr als ein Kicker im Großraumbüro.

Agiles Arbeiten: Mehr als Methoden

Die Betrachtung von Netflix agiler Kultur lässt drei weitere Schlussfolgerungen zu:

1. Wir bekommen eine Idee, was mit agiler Kultur tatsächlich gemeint sein könnte: Was für die einen zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit führt, ist für andere ein Kündigungsgrund. 

2. Bestleistungen werden nicht dadurch erzielt, lediglich nach bestimmten agilen Arbeitsmethoden zu arbeiten und Werte und Kultur außen vorzulassen. Ein Vergleich mit agilen Top-Unternehmen wie Netflix führt folglich ad absurdum – insbesondere, wenn die veränderten Anforderungen an Mitarbeiter unberücksichtigt bleiben.

3. Bei der digitalen Transformation handelt es sich im Kern auch um eine agile Transformation: Es gibt keine einfache Lösung, keinen Kippschalter, den wir schlicht umlegen können. Der Weg von konventionellen Unternehmensstrukturen zu agilen Teams geht mit vielen Faktoren einher, die begleitend zu gestalten sind.

 

Ob uns agile Kultur nun schmeckt oder nicht – in jedem Fall kommen wir nicht umhin, uns intensiv mit ihren Umständen zu beschäftigen. Denn eines ist gewiss: In punkto Innovationskraft und Produktausrichtung im digitalen Umfeld sind Organisationsformen wie die von Netflix überlegen.

 

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